Ein Professor meinte in seinem Seminar „Storytelling“, dass jeder etwas erlebe und deswegen auch jeder Geschichten erzählen könne. Diese Aussage war mir damals – das Seminar liegt schon einige Semester zurück – eine Ermutigung. Als Radiomoderator ist man herausgefordert, sogenannte „Hinhörer“ zu bringen, also Aufmerksamkeit zu erregen oder kurz: Geschichten zu erzählen. Das eine ist nun, zu wissen, dass man auf jeden Fall ein Erlebnispotenzial in sich trägt, das zur Erzählung gemacht werden kann. Das andere ist die Erfahrung, dass dieses Potenzial nicht immer abrufbar zu sein scheint. Wie sonst erklärt sich der Umstand, dass ich schon oft im Studio saß und dachte: „Was ist deine Geschichte?“, „Was hast du erlebt?“ oder „Was hast du zu sagen?“ In diesen Situationen umgibt mich eine einschüchternd nichtssagende Ahnungslosigkeit und suche ich vergeblich das relevante Gedanken- oder Erlebnisgut der vergangenen Tage. Es ist ein „bussisches“ Nichts.
„Bussisch“ weil es jener Atmosphäre gleicht, die man im Bus, auf dem Weg zur Uni – morgens – oder auf dem Weg nach Hause – abends – erleben kann. Für gewöhnlich sitzt man und schweigt. Es ist eine Lückenzeit, der man einen Nutzen abgewinnen kann, indem man längst überfällige SMS schreibt, die Tagesschau-App durchstöbert – „Quick-politics“ – oder ganz allgemein gesprochen das „Bald“ oder „Später“ organisiert und kommuniziert. Man kann diese Zwischenzeit auch verstreichen und ganz klassisch den Blick schweifen lassen, zunächst aus dem Fenster, dann durch den Bus, ohne wahrzunehmen, dass die nahstädtischen Nutzungsflächen der Landwirtschaft „Felder“ sind und die beiden Erziehungsberechtigten des hier und da ungemütliche Laute von sich gebenden Babys „Eltern“. Man kann schlafen. All diesem Tun und Nichttun ist eine gewisse Eigenart inhärent, die in jener Zwischenzeitlichkeit gründet: Man handelt oder nichthandelt der Ablenkung wegen, um zu Überbrücken. Das Ziel liegt außerhalb des Busses und das, was im Bus geschieht, ist – vermutlich – seines Selbstzwecks, seiner Kreativität, beraubt. Ob diese theoretische Beschreibung zutreffend ist oder nicht, oft steige ich aus dem Bus ohne dass die Zeit im Bus, mein dortiges Tun und Nichttun, einen bleibenden Eindruck – eine Geschichte – hinterlassen würde.
Neulich war das anders: Da bin ich auch in einen Bus eingestiegen, einen jener kleineren, „Sammeltaxi“ genannt. Da bin ich normalerweise noch mehr auf Sitzen und Schweigen eingestellt, man ist schließlich zumeist alleine und überdies nur kurz unterwegs. Diesmal aber fand ich mich, kaum war die Tür geschlossen, nicht nur in einem Gefährt, das mich von Au Ost zum Hauptbahnhof brachte, sondern auch in einem Gespräch. Das Neubaugebiet „Güterbahnhof“ mit seinen graugroßen Gebäudekomplexen – es wird sicherlich schön, mit Café, mit Kultur – wurde wie sonst auch kein Gegenstand definierter Betrachtung und Reflektion und nur unterunbewusst wahrgenommen, genauso auch die „Blaue Brücke“ und – sofern man links abbiegt, wir aber fuhren geradeaus – die Poststelle. „Ich muss sowieso in die Wilhelmstraße“, hatte er gesagt und hielt dann auch direkt vor dem Hegelbau. Im Aussteigen war ein „Vielen Dank“ inbegriffen und die Freude über einen bleibenden Eindruck:
Am liebsten fährt er die langen Strecken in Richtung der Schwarzwälder Kurortcluster, weil „da kommt man mal raus und das Geld stimmt“. Ach, „und man kommt durch schöne Orte, der ganze Weg ist sehr beeindruckend“. Es gibt Dauergäste, gerade auch ältere Leute, die regelmäßig gefahren werden, weil sie darauf angewiesen sind: „Da kennt man sich dann“. Es ist halt nicht nur „normaler Busverkehr“. Da kommen mehrere Komponenten zusammen: Das „SAM“ ist nur eines davon. Normalerweise sind die Haltestellen da auch vorgegeben – also beim SAM. Aber wenn man alleine drin sitzt und nicht nur das Schweigen betreibt, kann man schon auch mal nachfragen, wie es weitergeht. „Dann können die Haltestellen auch einfach persönlich angepasst werden.“ Gut zu wissen. „Zum Flughafen geht´s auch oft“ und – was festes Gehalt bedeutet – „man ist angestellt“.
Jeder erlebt etwas und kann deswegen Geschichten erzählen. Manche davon sind sehr alltäglichen Klangs, manche überraschend außergewöhnlich, manche informieren, manche werfen Fragen auf, manche erklären, manche brauchen Erklärung. Alle aber – die Ausnahmen mal ausgenommen – haben das Potenzial den “Alltagsbussismus” zu durchbrechen und Gehalt zu liefern. Geschichtsgehalt. Ein bisschen Überwindung kostet es vielleicht, um vom Sitzen und Schweigen zum Sitzen und Reden zu kommen. Aber da darf man sich nicht so anstellen. Es geht schon irgendwie und manchmal sogar von alleine.