„Worin du den anderen richtest, verdammst du dich selbst…“ Der Satz aus dem biblischen Römerbrief, Kapitel 2, ist höchst aktuell, auch mit Lokalbezug. Soeben wurde gegen den Tübinger OB Boris Palmer mit großem moralischen Furor ein Parteiausschlussverfahren von den Grünen beschlossen, wegen „Rassismus“. Dieses Verdikt wird aus einer Äußerung Palmers in einer Diskussion auf Facebook abgeleitet. Mich interessiert an dieser Stelle besonders dieser moralische Furor. Es handelt sich um eine gewaltige Eigendynamik, die die Auseinandersetzung um Sachinhalte stets überlagert. An den Kommentarspalten in den Sozialen Medien wird das regelmäßig exemplarisch. Von irgendwelchen „Sachanlässen“ ausgehend entfalten sich dort „Shitstorms“, „Bashing“ und „Hatespeech“. Man hat dann den Eindruck, es geht gar nicht mehr um die Sache, sondern um die Moral bzw. die eigene Stellung. Aus der Herabwürdigung des anderen verschafft man sich eine relativ bessere Stellung, aus der Abgrenzung vom anderen formt man die eigene Identität. Gleichzeitig üben solche „Kriege“ (denn als „Diskussion“ kann man das kaum noch bezeichnen) eine seltsame Faszination aus. Ich bleibe immer wieder selbst in solchen Kommentarspalten hängen, erschüttert zwar, aber doch auch gefesselt, und auf der Suche nach – was?
„Deshalb bist du nicht zu entschuldigen, o Mensch, jeder der da richtet – denn worin du den anderen richtest, verdammst du dich selbst, denn du, der du richtest, verübst dasselbe…“ Gerade INDEM ich richte, d.h. mich moralisch über den anderen erhebe, gerade INDEM ich sage (oder denke): „ich bin auf der richtigen Seite, du auf der falschen!“, gerade damit besiegele ich meine eigene Unentschuldbarkeit. Die Sache betrifft auch die Christliche Kirche, und Heuchelei wurde und wird ihr ja auch immer wieder vorgeworfen. – Heutzutage wird sie aber von ganz weltlichen Organisationen darin sozusagen überholt. Zu biblischen Zeiten konnte man noch gesteinigt werden, wenn man als „Ehebrecher“ ertappt wurde. Heute wird man als „Kommunist“, „Rassist“, „Zionist“ oder „Schwulenhasser“ gebrandmarkt und „gecancelt“. Die Gemeinsamkeit der vorgenannten Begriffe besteht in ihrer „Stempelfunktion“. Es geht hier NICHT darum, dass man über die zugrundeliegenden Sachinhalte nicht streiten dürfte und müsste! Sondern um die religiös-weltanschauliche Dynamik eben des Richtens. Wie Jesus Christus damit umgeht, zeigt eine Geschichte aus dem Johannes-Evangelium. Er sagt auf die Frage eines religiösen Leiters, ob eine Ehebrecherin gesteinigt werden solle: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“. Mit Blick auf die Sozialen Medien von heute kann man sagen: dass die Frau dann nicht gesteinigt wurde, war ein ebenso großes Wunder Jesu wie die Krankenheilungen und Totenauferweckungen. Später, bei Jesus selbst, wiederholte sich dieses Wunder übrigens nicht. Jesus selbst wurde sozusagen mit allen nur erdenklichen Stempeln abgestempelt – und gekreuzigt.
Von hieraus führt der Weg zur „Besten Nachricht“. Jesus Christus rettet nicht die „Entschuldbaren“, diejenigen, die ihn sozusagen nicht mitgekreuzigt haben. Es gibt sie gar nicht. Sondern er nahm unsere inneren und äußeren „Shitstorms“, unser „Bashing“, unsere Hatespeech und auch unseren weltanschaulich-religiönse Furor auf sich. „Meinst du, dass du dem Gericht Gottes entgehen wirst?“, schreibt Paulus im Römberbrief Kapitel 2 weiter. Sicher nicht! Aber Jesus hat dieses Gericht für dich auf sich genommen. In Bezug auf mich selbst, auf meine moralische Stellung und auf meine Identität allein darauf zu sehen, was Jesus getan hat, bedeutet das, wovon Paulus dann im Folgenden schreibt, dass Gottes Güte uns „zur Buße leitet“ (Römer 2,4).
Richten und Verdammen und Buße 2021
11. Mai 2021 | Keine Kommentare